Was war, was wird?
Die innere Jahresbilanz
Sich zu vergegenwärtigen, was im vergangenen Jahr wichtig und prägend war, kann wertvoll sein, um den inneren Kompass wieder neu zu justieren. Dies kann durchaus im Sinne einer Bilanz geschehen. Wo liegen die Gewinne, wo die Verluste, was hat man verpasst, welche Chancen wahrgenommen? Auch das Umfeld, also die Menschen, mit denen man lebt und arbeitet, werden in diese Betrachtung einfließen, denn auch die anderen haben sich entwickelt, Wandlungen durchgemacht und bestimmte Richtungen eingeschlagen. Wer den eigenen Standort bestimmen will, kann dies eigentlich nur, indem er sich im Kontext seiner Umgebung sieht. Niemand ist eine Insel.
Die Jahresbilanz – Kritische Fragen an das eigene Ich
- Was hat mir im vergangenen Jahr so richtig gut getan?
- Wo hatte ich Erfolge, wo nicht?
- Was hat mir am meisten Probleme bereitet? Warum?
- Was tue ich gerne?
- Wofür kann ich Leidenschaft entwickeln?
- Gibt es in meinem Leben eine Vision?
- Wohin will ich gelangen – was ist mein Ziel, beruflich und privat?
- Wie ist mein Umgang mit anderen
- Wie gehen andere mit mir um – wie schätzen sie mich ein?
- Welche Talente und Fähig¬keiten habe ich? Nutze ich sie? Was hindert mich daran?
- Was habe ich im vergangenen Jahr neu dazu gelernt?
- Womit habe ich unnötig Zeit vertan?
- Welche Hindernisse haben sich mir in den Weg gestellt?
- Warum ist es mir lieber, auf ausgetretenen Pfaden zu wandeln?
- Wo stehe ich jetzt, wo möchte ich in einem Jahr stehen?
Das Tagebuch – ein inneres Logbuch
Geübte Tagebuchschreiber haben eine gewisse Routine darin, diese Standortbestimmung vorzunehmen. Sie setzen sich, wenn nicht täglich, so doch recht regelmäßig mit den eigenen Sorgen, Problemen, Hoffnungen, Ausblicken und Glücksmomenten auseinander. Am Jahresende nun das Tagebuch vorzunehmen und die Einträge des Jahres durchzulesen, bringt in mancher Hinsicht einen Erkenntnisgewinn. Der Leser der eigenen Aufzeichnungen spürt sofort, welche Themen wichtig waren und die Lebenszeit am stärksten in Beschlag genommen haben. So gewinnt er eine Chronik der laufenden Ereignisse und der eigenen Befindlichkeit. Er sieht, wo er steht im Leben und was womöglich zu verändern oder zu verbessern wäre.
Die innere Jahresbilanz niederzuschreiben, kann auch therapeutisch hilfreich sein, als Entlastung von inneren Nöten und Schmerzen. Die meisten Menschen tragen persönliche Probleme mit sich herum, die sie anderen nur schwer offenbaren können, manchmal aus Scham, manchmal auch aus Mangel an einem geeigneten Gesprächspartner. Papier ist hingegen geduldig, es erlaubt jede Form der Offenbarung. Das Niederschreiben kann so eine Form der inneren Läuterung und Reinigung sein. Im Schreiben trägt man noch unausgesprochene Gefühle nach außen und gießt sie in eine Form. Frustration, Leid oder Zorn werden so objektivierbar, man kann sich die Erfahrungen noch einmal anschauen und aufs Neue darüber nachdenken. So lange, bis das seelische Problem eingeordnet und so besser überwunden werden kann.
Das Tagebuch oder auch die einmalige innere „Jahresbilanz“ können damit zu wertvollen Instrumenten der Selbsterkenntnis werden. Ehrlichkeit vorausgesetzt, wirft man vielleicht einen Blick in die Tiefen des eigenen Unterbewusstseins, erkennt darin die „blinden Flecken“, an die man sich nicht herangewagt hat, und versteht so die eigenen Verhaltensweisen besser – auch die irrationalen. In einem weiteren Schritt kann man an den eigenen Unzulänglichkeiten arbeiten, sich Ziele stecken, kleinere und größere Fortschritte beobachten und sich damit zusätzlich motivieren. Die seelische Inventur am Jahresende dient manchem auf diese Weise als Werkzeug zur Selbstoptimierung. Durch das Nachdenken und Schreiben lernt man, die inneren und äußeren Widerstände richtig einzuschätzen und erhält auf diese Weise einen brauchbaren Wegweiser. Wie bei jeder Inventur erkennt man auch, was zukünftig „raus“ muss – Überlebtes und nicht mehr Zeitgemäßes. Oder wie Johann Wolfgang von Goethe, auch er ein fleißiger Tagebuchautor, notiert hat: „Schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.“